von Helga Maria Gorfer
Aus besonderem Anlass denke ich nach vielen Jahren an meinen ersten, eigenen Koffer, einen himmelblauen Samsonite. Bis auf eine Flug- und eine Schiffsreise, war er immer in meiner Gesellschaft unterwegs. Am Ende aber landete mein Koffer in einem Altersheim und kam nicht wieder zu mir zurück. Vielleicht hat er sich dort zur Ruhe gesetzt oder wurde ganz einfach aus Altersgründen entsorgt. Auch gut – er hatte ein langes und sehr aufregendes Leben.
Mein Koffer war einer der ersten Hartschalenkoffer mit Rollen und einem Griff zum Ausziehen. So konnte man ihn vor sich herschieben oder aber hinter sich herziehen und bei Nichtgebrauch an der Seite einklappen – ultramodern in dieser Zeit und vor allem sehr teuer. Meine Mutter hat ihn zusammen mit mir in Meran ausgesucht. Ihr Geschenk für meine bevorstehende Reise, die mich über den Atlantik führen sollte.
Es war im Jahr 1981, als ich im Dezember den besagten Koffer packte, um eine Stelle als Au-pair-Mädchen in Vancouver/Canada anzutreten. Auf seine erste Reise allerdings musste ich den Koffer alleine schicken, mit einem Cargo-Transportflugzeug wegen seines Übergewichts. Ich folgte ihm ein paar Wochen später, ebenso allein und aufgeregt auf dem Weg ins große Abenteuer.
In Vancouver angekommen, erwartete mich mein blauer Samsonite im Depot des Flughafens und nun begann eine aufregende Zeit in einer Großstadt, und für mich am schönsten Platz der Welt: Berge, Meer, neue Freunde, viele Eindrücke und aufregende Momente haben mir das Land und seine multikulturellen Bewohner geschenkt. Mein Koffer, neu und ohne Blessuren, musste mehr als zwei Jahre auf seine Heimreise nach Italien warten. Ab und zu war ich mit leichterem Gepäck unterwegs: in den unendlichen Weiten Canadas, den USA und auch auf Hawaii. Im März 1983 beschloss ich, nach langem Hin und Her, nach Südtirol zurückzukehren. Also musste mein blauer Koffer wieder eine Reise alleine antreten, diesmal mit dem Schiff nach Europa, Zielhafen Genua. Ich folgte ihm später wie schon einmal mit dem Flugzeug.
In der Zeit danach begleitete mich der Koffer durch ganz Europa: Er blieb mit mir mehrere Jahre in der Schweiz, einige Monate in Spanien, eine Zeitlang in Frankreich. Dazwischen pausierte er auf meinem Kleiderschrank und verstaubte, bis ich ihn wieder herausholte und mich mit meinem Mann 1993 auf eine Weltreise begab. Auf allen Flughäfen rund um die Welt leistete er mir die allerbesten Dienste, nicht nur als Transportmittel für mein Hab und Gut, sondern auch als Sitzgelegenheit, wenn ich nach Stunden des Wartens oder wegen des Jetlags sehr müde war. Inzwischen war auch er älter geworden, die Spannung um die Schlösser ließ nach, und so musste ihn all die restlichen Jahre ein schönes rotes Band zusammenhalten.
Die letzte Reise allerdings war eine ohne Wiederkehr. Nachdem mein Koffer mich schon mehr als 25 Jahre auf allen Reisen und Abenteuern dieser Welt begleitete, musste meine Mutter ins Altersheim. Frauen ihrer Generation kamen meistens nicht über ihre Heimatgrenzen hinaus. Sie besaß deshalb auch keinen Koffer und so kam der blaue Samsonite wieder zum Einsatz. Dort hinein packten wir ihre Sachen und er begleitete sie mit ins Heim nicht weit von zuhause. Einige Male wollte ich ihn dann mit nach Hause nehmen, aber meine Mutter ließ das nicht zu. Sie war der Meinung, ihr Aufenthalt im Heim wäre nur von kurzer Dauer und sobald sie sich gesundheitlich erholt hätte, würde sie mit meinem blauen Koffer wieder nach Hause zurückkehren. Also ließ ich den Koffer dort. Meine Mutter verstarb 2010, sie war 88 Jahre alt, mein Koffer 31.
Helga Maria Gorfer – ehemalige Weltenbummlerin, 62 Jahre alt, aus Schlanders, im Ruhestand, Schreiberin aus Leidenschaft und Haiku-Dichterin
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Eine Begleitaktion zur Sonderausstellung „Packen, tragen, rollen – Reisegepäck im Wandel der Zeit“ (2021)