von Leo Andergassen
Ja, der Koffer. In meiner früheren Kindheit pflegte ich die stabilitas loci, diese braucht bekanntlich keinen Koffer, kein Behelfsmittel zum Transfer heimatlicher Lebensusancen. Das Leben spielte sich im Triangel ab, schlafen, essen, spielen, Reihenfolge austauschbar, wie manches andere auch. Eine Bananentasche genügte. Nun auf eine Reise kann man ohne Koffer nicht. Den gab es bei mir relativ spät, mit Sieben. Es war keine Reise um des Reisens Willen, es sollte keine Tour de force sein, nur ein biederer Verwandtenbesuch im ferneren Österreich. Nun sind derlei Abstrakta wie Österreich für eine Kinderseele nicht begreifbar. Österreich ist nicht rund wie ein Ball, bemessen wie eine Sandkiste. Österreich sprengte alles bisher erlebte, denn es brauchte dazu auch die Eisenbahn. Und an des Koffers Seite gab es bei mir auch eine der ersten Lebensängste: In den Tunnels vor Innsbruck war die Rede vom Entgleisen. Das ist existenziell, mit dem fahrbaren Haus entgleisen, mit dem Koffer ins Verderben fahren. Nein, insgeheim ließ ich es nicht zu. Der braune Koffer, aus gepresster Pappe mit einem stoffimitierenden Futter, silbrig erscheinenden Chromschließen, war das Habitaculum meiner Habseligkeiten. Die Vorstellung, wo man denn wohne, ist für Kinderseelen einerlei, man kann unter einem Tisch hausen, im Kastenversteck, ansonsten hinter tausend Wänden. Auch im Koffer? Kindermental ja. Der Koffer ist ja die Heimatgarantie in der Ferne. Mit dem Koffer
verbindet mich mein erster Ausweis, mit SW-Bild. Meine Mutter beharrte auf dem Begriff, es handle sich dabei um eine Legitimation, man legitimiere sich durch das gestempelte Bild, und dem Namenszug, den ich sowohl zu schreiben als auch zu lesen vermochte. Nun Mutter fuhr nicht mit, ich war mit meinem Onkel unterwegs. In Graz angekommen, konnte ich die einzelnen Stationen Namen aufsagen. Keine Meisterleistung, die wahre Leistung begann erst, als ich den Koffer, meinen Koffer, vom Bahnhof in Schwanberg zu einem Häuschen tragen musste, in dem das Verwandtenquartier lag, hier hauste die Schwester meiner Großmutter, die zu Unseligen Zeiten der Option sich für ein Deutschtum in Armut, Armseligkeit und Mannesabhängigkeit entschieden hatte. Ja, diese nächtliche Strapaze mit dem Koffer ist mir in Erinnerung geblieben. Das Neonlicht am Bahnhof. So stelle ich mir immer noch Kriegszustände vor. Den Koffer, den muss man schaffen, daran fährt kein Weg vorbei, und kein langer Weg wird ohne Koffer bewältigt. Nun ich weiß gar nicht mehr, ob mein frühstes Reiseutensil mich schon Wochen zuvor nach Cesenatico begleitet hatte. Aber das Meererlebnis wird hier zugunsten einer doch längeren Reise und eines Nachweises eingetauscht, historische Mogeleien inkludiert. Oder war er auch schon in Plancios/Palmschoss dabei, in einer für mich aus dem geländegängigen Flachland stammenden doch hochwäldlerisch anmutenden Gesteige, wo, wie mir damals schon vorkam, der Begriff der Palme keineswegs angebracht war? Der Koffer begleitete mich weiterhin, es waren Stepps, Kurzaufenthalte, dann wurden es Sommer bei Beherbergungsfamilien. Selbst im Trubel einer behüteten, ja beengten Welt gab es den Hauch von Reise und Weite. Ohne den Koffer klarerweise nie. Deshalb ist er in der mir eingegrabenen Materialanhänglichkeit zur Chiffre des Aufbruchs geworden. Nicht das Ziel war entscheidend, sondern allein, so würde es vielleicht Montaigne sagen, die Steinwurfstrecke, die so weit reicht, dass man den eigenen Kirchturm nicht mehr sehen kann. Der Koffer wird zum Instrumentar einer Welt, die man öffnen, aber auch zusperren und verschlüsseln kann. Dass derlei Gedanken einem nachhängen, immer noch, leistet immer noch die vergängliche Materialität eines Behelfs.
Jede Woche eine neue Koffergeschichte!
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Eine Begleitaktion zur Sonderausstellung „Packen, tragen, rollen – Reisegepäck im Wandel der Zeit“ (2021)