Archiv für den Monat: Dienstag, der 31. August 2021

Meine erste Reise von Schlanders nach Bozen

Koffer_Schuster

von Johanna Schuster Luther

Ich fuhr als 13-Jährige im Jahre 1947 mit dem Zug von Schlanders nach Bozen, um bei meiner Großtante für drei Jahre zu wohnen.

Ich durfte die damalige Handelsschule in der Weggensteinstraße besuchen. Einen mittelgroßen eher etwas älteren Koffer voll Kleidungsstücke und Unterwäsche trug ich mit mir. Johanna_Schuster_LutherDaheim beim Packen weinte ich ab und zu, weil mir der Koffer zu alt und zu schadhaft vorkam.

Der Koffer blieb während der ganzen Fahrt zwischen meinen Beinen. Als ich am Bahnhof in Bozen ausstieg, befand ich mich im Nu unter einer Menschenmenge, die hastig zum Ausgang drängte und mich, ohne es zu wollen, mitschob.

Als ich mich im Freien befand, auf den Stufen am Bahnhofsplatz, hielt ich inne, da mir die Stadt fremd war. Ich stellte meinen Koffer auf den Boden. Meine Großtante hatte mir versprochen mich abzuholen. Ich konnte sie nicht sehen, da sie beim Hauptausgang auf mich wartete. Ich ließ meinen Koffer auf den Stufen stehen und ging die Tante suchen.

Als ich sie endlich entdeckte, lief ich mit Freude zu ihr, um sie zu umarmen. „Wo hast du dein Gepäck“ fragte sie mich. „Mein Koffer steht auf den Stufen beim Haupteingang“ antwortete ich. „Ja Kindele hol ihn schnell sonst wird er von jemanden mitgenommen, sagte sie.

Doch mein Koffer stand noch immer auf demselben Platz. Er war wohl zu schäbig, als dass man ihn für begehrenswert hielt.

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Eine Begleitaktion zur Sonderausstellung „Packen, tragen, rollen – Reisegepäck im Wandel der Zeit“ (2021)

Koffer. Ab initiis

Leo_Andergassen_Koffer

von Leo Andergassen

Ja, der Koffer. In meiner früheren Kindheit pflegte ich die stabilitas loci, diese braucht bekanntlich keinen Koffer, kein Behelfsmittel zum Transfer heimatlicher Lebensusancen. Das Leben spielte sich im Triangel ab, schlafen, essen, spielen, Reihenfolge austauschbar, wie manches andere auch. Eine Bananentasche genügte. Nun auf eine Reise kann man ohne Koffer nicht. Den gab es bei mir relativ spät, mit Sieben. Es war keine Reise um des Reisens Willen, es sollte keine Tour de force sein, nur ein biederer Verwandtenbesuch im ferneren Österreich. Nun sind derlei Abstrakta wie Österreich für eine Kinderseele nicht begreifbar. Österreich ist nicht rund wie ein Ball, bemessen wie eine Sandkiste. Österreich sprengte alles bisher erlebte, denn es brauchte dazu auch die Eisenbahn. Und an des Koffers Seite gab es bei mir auch eine der ersten Lebensängste: In den Tunnels vor Innsbruck war die Rede vom Entgleisen. Das ist existenziell, mit dem fahrbaren Haus entgleisen, mit dem Koffer ins Verderben fahren. Nein, insgeheim ließ ich es nicht zu. Der braune Koffer, aus gepresster Pappe mit einem stoffimitierenden Futter, silbrig erscheinenden Chromschließen, war das Habitaculum meiner Habseligkeiten. Die Vorstellung, wo man denn wohne, ist für Kinderseelen einerlei, man kann unter einem Tisch hausen, im Kastenversteck, ansonsten hinter tausend Wänden. Auch im Koffer? Kindermental ja. Der Koffer ist ja die Heimatgarantie in der Ferne. Mit dem Koffer Leo_Andergassenverbindet mich mein erster Ausweis, mit SW-Bild. Meine Mutter beharrte auf dem Begriff, es handle sich dabei um eine Legitimation, man legitimiere sich durch das gestempelte Bild, und dem Namenszug, den ich sowohl zu schreiben als auch zu lesen vermochte. Nun Mutter fuhr nicht mit, ich war mit meinem Onkel unterwegs. In Graz angekommen, konnte ich die einzelnen Stationen Namen aufsagen. Keine Meisterleistung, die wahre Leistung begann erst, als ich den Koffer, meinen Koffer, vom Bahnhof in Schwanberg zu einem Häuschen tragen musste, in dem das Verwandtenquartier lag, hier hauste die Schwester meiner Großmutter, die zu Unseligen Zeiten der Option sich für ein Deutschtum in Armut, Armseligkeit und Mannesabhängigkeit entschieden hatte. Ja, diese nächtliche Strapaze mit dem Koffer ist mir in Erinnerung geblieben. Das Neonlicht am Bahnhof. So stelle ich mir immer noch Kriegszustände vor. Den Koffer, den muss man schaffen, daran fährt kein Weg vorbei, und kein langer Weg wird ohne Koffer bewältigt. Nun ich weiß gar nicht mehr, ob mein frühstes Reiseutensil mich schon Wochen zuvor nach Cesenatico begleitet hatte. Aber das Meererlebnis wird hier zugunsten einer doch längeren Reise und eines Nachweises eingetauscht, historische Mogeleien inkludiert. Oder war er auch schon in Plancios/Palmschoss dabei, in einer für mich aus dem geländegängigen Flachland stammenden doch hochwäldlerisch anmutenden Gesteige, wo, wie mir damals schon vorkam, der Begriff der Palme keineswegs angebracht war? Der Koffer begleitete mich weiterhin, es waren Stepps, Kurzaufenthalte, dann wurden es Sommer bei Beherbergungsfamilien. Selbst im Trubel einer behüteten, ja beengten Welt gab es den Hauch von Reise und Weite. Ohne den Koffer klarerweise nie. Deshalb ist er in der mir eingegrabenen Materialanhänglichkeit zur Chiffre des Aufbruchs geworden. Nicht das Ziel war entscheidend, sondern allein, so würde es vielleicht Montaigne sagen, die Steinwurfstrecke, die so weit reicht, dass man den eigenen Kirchturm nicht mehr sehen kann. Der Koffer wird zum Instrumentar einer Welt, die man öffnen, aber auch zusperren und verschlüsseln kann. Dass derlei Gedanken einem nachhängen, immer noch, leistet immer noch die vergängliche Materialität eines Behelfs.

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Papas Koffer

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von Markus Westphal

Er steht immer da, neben der Schlafzimmertür. Wohl seit ich vor drei Jahren in die Wohnung eingezogen bin. Eine Rolle mit goldenem Schleifenband, für Geschenkpakete, liegt auf ihm. Muss sie irgendwann dort hingelegt haben. Papas Koffer. Berlin. Dorthin sollte er mich begleiten. „Nach Berlin geht man nicht, nach Berlin wird man gerufen.“, sagen die alten Schauspieler. Ehrlich gesagt, ich weiß gar nicht, ob es Papas Koffer ist. Ich habe meine Mutter irgendwann gefragt, ob Sie einen Koffer hätte und sie gab mir diesen. Jedenfalls sind wir irgendwie verbunden. Mein Vater, der aus Berlin stammte, der Koffer, die Stadt selbst und ich… durch ein goldenes Band. Wenn ich so drüber nachdenke, scheint es mir, wie der Bausatz eines irgendwann zu packenden Geschenkes, das ich mir wünsche. Oder wünschte? Wenn ich die Wohnung fege, sehe ich ihn und erinnere mich, warum er dort steht. Immer griffbereit. Für den Fall, dass der Anruf kommt. Aber er kommt nicht. Er wird nicht kommen. Wir sind gefangen. Wir können nicht weg. Gebunden durch ein goldenes Band. An diese Wohnung, dieses Dorf, dieses Land. – Unser Exil. Fern ab vom Kolosseum – Dazu verdammt vor der Tür zu stehen und zu warten. Worauf?
Er löst sich langsam auf. In viele Städte hat er mich begleitet. Sein hellbraunes Leder wird spröde. Ein Verschluss ist eingerissen. Im Inneren hat sich die rotweißkarierte Verschalung gelöst. Ob wir die Reise noch schaffen würden? Wir sind alt geworden. Fast meine ganzen Dreißiger habe ich dem Glanz der großen Häuser geopfert. Andere haben Familien gegründet. Häuser gebaut. Fürs Alter vorgesorgt. Mein Koffer und ich haben Regisseure abgeklappert. Gesucht. Geträumt. Gehofft. Auf ein Haus, dass uns interessiert, eine Gruppe zu der wir passen, auf Geschichten die es wert sind, erzählt zu werden. Wir sind müde geworden. „Die Zeit ist fast vertan.“, ruft der Tod den Jedermann. Beten wir den falschen Gott an? Wie das Auge von Mordor, strahlt der sich drehende Kreis durch den Nebel, hoch oben, auf dem Dach des Theaters am Schiffbauerdamm, mit seinen magisch erleuchteten Buchstaben. – Ich kann das BE nicht loslassen. Ich bin es uns schuldig. „Du machst das schon.“, sagte mein Vater immer. Ich bin mir nicht mehr sicher. Vor einiger Zeit stand ich an seinem Grab. „Was soll ich jetzt tun?“, fragte ich ihn. In diesem Augenblick flog ein Vogel vorbei… knapp über der Erde. War das seine Antwort? Sei frei?
Was sagst Du, Koffer? Willst du noch einmal gepackt werden? Noch einmal mit ihnen reden? „Aber nicht in diesem Zustand. So runtergekommen wie du bist, kann ich dich nicht mitnehmen.“, sagt der Koffer. „Du siehst auch nicht besser aus.“, antworte ich ihm „Ja, und an wem liegt das?“, „Ist schon gut, ich hab’s verstanden. Also… was machen wir jetzt?“
„Hör auf zu Saufen und zu Fressen und mit du weißt schon was. Ruf deine alte Sprecherzieherin an und bitte sie um Fernstunden.“, „Erledigt.“, „Gut. Geh laufen und wandern, mach deine Gymnastikübungen und werde fit. Vergiss allen Schnickschnack bei deinen Projekten. Fokussiere dich auf Text, Figur und Inhalt. Produziere im kommenden Jahr drei Monologe, mit unterschiedlichen Figuren und lass sie aufzeichnen, für die Bewerbung. Besorg dir einen neuen Anzug, neue Schuhe. Pflanze mindestens einen Baum, richte den Garten in groben Zügen her und am wichtigsten: Sei gut zu deiner Mutter, dann leg ich an höherer Stelle ein Wort für dich ein. Mach alles gleichzeitig und so chaotisch wie du eben bist, wie du’s in den Küchen gelernt hast, nur übernimm dich nicht. Tue zuerst nur das Nötige, dann das Mögliche und dann, das Unmögliche. Kümmere dich um Haus und Hof und reife für die große Bühne. In einem Satz: Werde ein Mann. Und ich werde das machen, was ich schon seit Jahren mache, darauf warten, das du soweit bist…“, „Ist gut Papa, ich meine, Koffer…“, „Und komm mich öfters mal besuchen…“, „Versprochen…“

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