Archiv für den Monat: Dienstag, der 28. September 2021

Der große braune Koffer

von Oswald Waldner

Er täuschte Leder vor, war aber nur aus besserem Karton, unhandlich groß, Klappe links, Klappe rechts, Griff und Schloss in der Mitte, es war zum Schämen. Meine Mutter hatte alles, was sie mir ins Studentenheim mitgeben wollte, auf dem Tisch zurechtgelegt, bange sah ich ihr beim Einpacken zu und fürchtete, der Koffer würde nicht reichen. Schon machte ich mir Gedanken, wie ich ihn vom Bahnhof ins Heim schleppen sollte. Die Mutter riet mir zu einem Taxi oder mir von meinem Freund Julian, der mich dort erwarten würde, helfen zu lassen. Mein Bruder fuhr mich zum Bahnhof, den Koffer gab ich als Begleitgepäck auf, um ihn musste ich mich vorerst nicht weiter kümmern. Nach achtstündiger Fahrt und zweimaligem Umsteigen kam ich in der fremden Stadt an. Ein Taxi brachte mich ins Studentenheim, wo mich Julian in unser gemeinsames Zimmer führte. Am nächsten Morgen bot Julian sich an, mit mir den Koffer vom Bahnhof abzuholen. Da es nicht sehr weit war, gingen wir zu Fuß. Ich nahm den Koffer entgegen und war beeindruckt von seinem Gewicht. Ich trug ihn einmal rechts, einmal links und hatte bei jedem Wechsel die Befürchtung, der Griff könnte reißen. Julian ging neben mir her. Als ich den Koffer niederstellte, die Hände ausschlenkerte und ihn auf die Schulter hob, sah ich Julian zum erstenmal grinsen. Bald musste ich den Koffer wieder absetzen und verschnaufen. Wir standen uns auf dem Gehsteig gegenüber. Ich schwitzte und Julian erzählte von Sehenswürdigkeiten, die wir uns in den nächsten Tagen anschauen wollten. Ich hatte keine Lust auf Sehenswürdigkeiten, keine Lust auf die Stadt und auch nicht auf ein Zimmer gemeinsam mit Julian, der zusah, wie ich mich abschleppte. Der Koffer wurde immer schwerer, Julians Grinsen immer boshafter. Ich war mir sicher, dass Julian, den ich bis dahin kaum kannte, nie mein Freund sein würde. In den nächsten Tagen war jeder so sehr mit sich selbst beschäftigt, dass wir nichts gemeinsam unternahmen. Ich saß im Zimmer und grübelte. Was hatte Julian gegen mich? Was hatte ich ihm getan, dass ich ihm so gleichgültig war? Dann aber fragte ich mich, warum ich ihn denn nicht gebeten hatte, mir beim Koffertragen zu helfen, wie meine Mutter mir geraten hatte. Sah Julian in mir jemanden, der zu stolz war, Hilfe anzunehmen? Hatte er sich einen Freund anders vorgestellt? Tatsächlich nahm Julian sich nach einiger Zeit ein Privatzimmer irgendwo in der Stadt und wir verloren uns aus den Augen. Der große, leere braune Koffer lag bis Jahresende droben auf meinem Kleiderschrank und bildete sich wohl immer noch ein, aus echtem Leder zu sein. Ich nahm ihn genauer ins Visier: Mit den Metallklappen links und rechts, mit Schloss und Griff in der Mitte schien er die ganze Zeit ein breites Gesicht zu ziehen und auf mich herabzugrinsen.

Jede Woche eine neue Koffergeschichte!

Hier geht’s zum Podcast.

Eine Begleitaktion zur Sonderausstellung „Packen, tragen, rollen – Reisegepäck im Wandel der Zeit“ (2021)

Junge Leute mit Koffer

Valigia_Bagna

von Nicola Bagna

Es ist Dezember 2019, und ich sehe die Dolomiten zum ersten Mal. Ein Berg überragt Corvara, der Sassongher. Weit entfernt, von Wolken umhüllt. Und vor allem einsam. Auf der anderen Seite der Col Alt. Weniger steil, auf seine Weise sanfter. Das Erste, was mir in den Sinn kommt, ist der Schnee. Aber vergessen wir die Kurven nicht: auf dem Weg nach Corvara gibt es viele Serpentinen, die hinaufklimmen, sich emporranken, sich wie ein Würmchen winden, das ein Blatt gefunden hat. Sie schaukeln glatt und holprig, wild und unsicher. Sie sind meine erste Begegnung mit den Dolomiten.
Corvara ist kalt; ich spüre die Höhe. Ich fühle mich kurzatmig, und ein wenig betäubt. Ich suche das Hotel La Perla. Ich trage einen großen Koffer mit mir.
Der Koffer. Wir sind die jungen Leute mit Koffer. Man nennt uns auf unterschiedliche Weise; meine Freunde zu Hause sagen „Saisonarbeiter”, für meine Mutter arbeite ich „Stück für Stück über das Jahr”. Niemand begreift jedoch die Entscheidung, jemand „mit Koffer” zu sein. Ich wollte schon immer im Gastgewerbe arbeiten; ich habe mir diesen Beruf immer gewünscht. Ich habe den Koffer gepackt, und jedes Mal, wenn ein Stück des Jahres verflogen ist, ist der Koffer voller geworden.
Die Berge. Die Berge und ihre merkwürdige Gegenwart. Ich schaue um mich und sehe Gipfel, schneebedeckte Spitzen. Sie sind schön wie das Leben; sie wirken hart und rau wie das Leben selbst. Ich höre die Leute sprechen. Ich verstehe sie nicht; es ist merkwürdig, eine Sprache zu hören und nichts zu verstehen. Ladinisch klingt faszinierend, geschichtsträchtig und gehört zum Alltag, denn es wird hier in den Tälern gelehrt und gesprochen. Es ist Identität, Leben, Kultur. Ich habe es mit anderen Dingen zusammen in den Koffer gelegt.
Bei der Arbeit begegne ich vielen Menschen. Viele sind Kollegen und teilen meine Abenteuer in diesem außergewöhnlichen Beruf des Gastgewerbes. Nein, ich spreche nicht von Tourismus! Es geht um Gastlichkeit; ich begrüße die Menschen, die im Haus eintreffen, ich kümmere mich um sie und darum, dass es ihnen wirklich gut geht! Sie sind nicht einfach Touristen für mich. Ich lerne viel von den Gästen und von den Personen in meiner Umgebung. Da gibt es Lebensgeschichten, die ganze Bücher kaum zu fassen vermögen: jede anders, alle verrückt, alle seltsam, keine unbedeutend. Ich hebe sie alle in meinem Koffer auf.
Manchmal flößen die Dolomiten mir Furcht ein, denn ich spüre, dass sie eine Seele haben. Sie scheinen mir Lebewesen und nicht bloß Steine zu sein. Ich begreife nun den Respekt und den Stolz der Talbewohner darauf, Ladiner zu sein.
Denn während das Meer vielen gehört und die Erde allen, so können doch nur wenige auf ein solch enges Verhältnis zu einer so schwierigen und zugleich so schönen Natur verweisen. Wenige haben eine so innige Bindung zu einer Welt, die einzigartig ist und zwangsläufig großen Einfluss auf sie ausübt.
Corvara hat mich wie ein neues Zuhause aufgenommen, mich und meinen Koffer voller „Stücke“ aus früheren Jahren. Casa La Perla ist eine Geschichte des Lebens, nicht nur jene einer Familie, die Gäste aufnimmt, sondern auch einer Familie aus zahllosen Mitarbeitern. Wir sind fast hundert, und fast alle haben wir einen Koffer. Freundschaften entstehen, auch Liebe, Ehen und Kinder. Da sind Freunde, und Freunde, die Brüder sind. Alle mit einem Koffer in unserer Unterkunft. Jeder schenkt den anderen ein Stück seiner selbst.
Ein Jahr ist vergangen; mein Koffer wird immer voller, aber ich habe noch viel Platz.

Jede Woche eine neue Koffergeschichte!

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