von Waltraud Holzner

Tante Lintschi
Wien, 14. Mai 1955. Warum mir dieses Datum so genau in Erinnerung geblieben ist? Am nächsten Tag, den 15. Mai, wurde im Schloss Belvedere der Staatsvertrag unterzeichnet, der Österreich nach Krieg und Besatzung die langersehnte Freiheit brachte.
Tante Lintschi und ich sind auf dem Dachboden, um die aufgerollte, gut verpackte Fahne zu holen. Sie lehnt in einer Ecke, darunter liegt ein Koffer. Trotz einiger Beulen und einer dünnen Staubschicht präsentiert er sich mit seinen vielen bunten Aufklebern als ein edles Utensil. Auf dem Boden liegen ein paar Fitzelchen Leder.
Meine Begleiterin wirft nur einen kurzen Blick auf das Ding, um mit einem kleinen Seufzer festzustellen, dass dieses Gepäckstück ihr gehöre und sie auf vielen Reisen begleitet habe. Sofort ist meine Neugier geweckt.

Bräutigam Nr. 1
Tante ist die jüngste Schwester meiner Großmutter, Jahrgang 1895, ein kleines, etwas kapriziöses Persönchen, ein Familienmitglied, das wir alle sehr lieben. Lintschi war nie verheiratet. Sie hatte Pech mit Männern. Bräutigam Nr.1, ihre große Liebe, fiel im 1. Weltkrieg. Bräutigam Nr. 2 erwies sich als Schuft.
Ob ich den Koffer öffnen dürfe, frage ich. „Er ist sicher leer“, meint Tantchen. Schon beim Öffnen der Verschlüsse bemerke ich das kleine Loch in der Ecke und – war da nicht ein Geräusch? So ein Kratzen und Schaben? Tante hebt den Deckel und macht ihn sofort wieder zu.
„Da drinnen ist eine Maus!“ quietscht sie.
„Jetzt nicht mehr!“, stelle ich lakonisch fest, denn die Maus ist durch das Loch nach außen geschlüpft und in die Weiten des Dachbodens entwischt.
Nun kann der Koffer ohne Panik geöffnet werden. Er ist nicht leer. Ein dickes Bündel Briefe, säuberlich mit Spagat zusammengebunden, liegt darin. Die Maus hat augenscheinlich schon Kostproben entnommen.
„Gott im Himmel, das sind Karls Briefe!“ lässt Tantchen mit einer etwas brüchigen Stimme verlauten.
Karl. Die Nummer zwei…
Jede Woche schrieb er aus Linz seinem geliebten „Wiener Mäderl Lintschi“ einen zärtlichen Liebesbrief. Zugleich verschickte er aber auch fast identische Briefe an sein geliebtes „Salzburger Mäderl“.
Als er irrtümlich den Brief an Lintschi in das Kuvert mit der Salzburger Adresse steckte und den Brief an die Salzburgerin nach Wien sandte, kamen die beiden Mäderln dem bösen Karl auf die Schliche.
Das Mäuslein tut mir leid. Dennoch schlage ich vor eine Mausefalle zu holen und bücke mich, um den Koffer zu entsorgen. Aber Tantchen hält mich zurück: „Lass ihn da! Das herzige Mausi wird sicherlich zurückkommen, dann kann es die Briefe zernagen. Alle!“
Jede Woche eine neue Koffergeschichte!
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Eine Begleitaktion zur Sonderausstellung „Packen, tragen, rollen – Reisegepäck im Wandel der Zeit“ (2021)