Archiv für den Monat: Dienstag, der 26. Oktober 2021

Die Da-Bleib-Koffer oder Mama, Dostojewski und das Mittelalter

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von Sonja Steger

Ja, einfach darum, weil Sonne und Strand und Woanderssein sich in einen Alptraum verwandelt hatten. Und das lag nicht am Zum-Nichts-Tun-Verdammt-Sein sondern an den Dus rundherum, am Schlafen auf hartem Boden, am Loch graben müssen, um aufs Klo gehen zu können, an der Alkoholkonzentration im Kreislauf der anderen und so fort.

All dies führte zum unumstößlichen Entschluss: Nie wieder Urlaub.

Seit da an glitten sie in den Dornröschenschlaf – die Koffer. Sie bergen in ihren Mäulern und Schlünden und Seitentaschen die zerknautschte Modesammlung – jene des Winters im Sommer, jene des Sommers etc.

Das Leben meinte es gut mit der Reisemuffelin. Ans Verreisen war so und anders nicht mehr zu denken. Sie hatte den Vater auf dem Weg zu seiner letzten Reise zu begleiten und danach die am Bahnsteig der Zeit zurückgebliebene Mutter.

Trotzdem reiste die Urlaubsverweigerin in die ganze Welt, nach Japan, Neuseeland und im Winter mit Dostojewski nach Russland. Reisen in der Zeit, im Raum, in Figuren hinein, in die man schlüpft wie in einen Reisemantel mit Fischgrät-Muster und aus denen man wieder heraussteigt mit der einfachen Geste des Buchzuschlagens.

Eine lange Weile war sie im Mittelalter unterwegs und daheim, im bunten Jahrtausend, dort in der Gestalt der mumifizierten Ratte, welche in einem Zwischenboden auf Schloss Tirol gefunden worden war – naturgemäß als jene noch quickfidel herumwuselte. Und Hannes warf ihr einen Brocken Wortbrot zu, danach machte sie sich wieder an die Arbeit und baute mit den in der Kanzlei ergatterten Papier- und Pergamentfetzen und ein paar Happen Seide ihr Nest. Etliche Jahrhunderte später verliehen ihr die Archäolog*innen einen prächtigen Orden mit Mäusezahnborte.

Meist kehrte sie aus ihrem Kopf mit leichtem Gepäck zurück, lud ihre Mama, die Hotel-Herzogin, ins Auto und erfreute die Alte Dame mit einer motorisierten Kutschfahrt durchs Urlaubsparadies Südtirol, dem der Tourismus den Wohlstand gebracht und den Hoteladel beschert hat, der seine Turniere mit Baukränen austrägt und einander übertrumpft im Schleifen und Wiederaufbauen der Bettenburgen.

Die Gedanken im Fahrtwind flattern lassend zuckte sie plötzlich zusammen. Mist, Thema verfehlt. Und beschloss die Koffer-Garde in ihrem Ruhe-Stand zu belassen, unter den schützenden Staubschichten, auf denen es sich der Kater zuweilen bequem machte. Erwecke man sie besser nicht zum Leben, mögen sie in Frieden ruhen die Taschen verstorbener Freunde, die Großmutter-, Großvater-, Großtanten-, Eltern- und Hofstaat-Koffer.

PS. All jenen Leser*innen, die in diesen Text-Koffer voller Fragmente mit Kopfschütteln blicken, darin geistig kramen und verzweifelt nach Meta-Ebenen suchen, sei verraten: Der Packesel der Erinnerung schleppt vieles mit sich herum & man hat meist mehr eingepackt als gedacht.

Jede Woche eine neue Koffergeschichte!

Hier geht’s zum Podcast.

Eine Begleitaktion zur Sonderausstellung „Packen, tragen, rollen – Reisegepäck im Wandel der Zeit“ (2021)

Zweckentfremdet

von Waltraud Holzner

Tante Lintschi

Wien, 14. Mai 1955. Warum mir dieses Datum so genau in Erinnerung geblieben ist? Am nächsten Tag, den 15. Mai, wurde im Schloss Belvedere der Staatsvertrag unterzeichnet, der Österreich nach Krieg und Besatzung die langersehnte Freiheit brachte.

Tante Lintschi und ich sind auf dem Dachboden, um die aufgerollte, gut verpackte Fahne zu holen. Sie lehnt in einer Ecke, darunter liegt ein Koffer. Trotz einiger Beulen und einer dünnen Staubschicht präsentiert er sich mit seinen vielen bunten Aufklebern als ein edles Utensil. Auf dem Boden liegen ein paar Fitzelchen Leder.

Meine Begleiterin wirft nur einen kurzen Blick auf das Ding, um mit einem kleinen Seufzer festzustellen, dass dieses Gepäckstück ihr gehöre und sie auf vielen Reisen begleitet habe. Sofort ist meine Neugier geweckt.

Holzner_Bräutigam

Bräutigam Nr. 1

Tante ist die jüngste Schwester meiner Großmutter, Jahrgang 1895, ein kleines, etwas kapriziöses Persönchen, ein Familienmitglied, das wir alle sehr lieben.  Lintschi war nie verheiratet. Sie hatte Pech mit Männern. Bräutigam Nr.1, ihre große Liebe, fiel im 1. Weltkrieg. Bräutigam Nr. 2 erwies sich als Schuft.

Ob ich den Koffer öffnen dürfe, frage ich. „Er ist sicher leer“, meint Tantchen. Schon beim Öffnen der Verschlüsse bemerke ich das kleine Loch in der Ecke und – war da nicht ein Geräusch? So ein Kratzen und Schaben? Tante hebt den Deckel und macht ihn sofort wieder zu.

„Da drinnen ist eine Maus!“ quietscht sie.

„Jetzt nicht mehr!“, stelle ich lakonisch fest, denn die Maus ist durch das Loch nach außen geschlüpft und in die Weiten des Dachbodens entwischt.

Nun kann der Koffer ohne Panik geöffnet werden. Er ist nicht leer. Ein dickes Bündel Briefe, säuberlich mit Spagat zusammengebunden, liegt darin. Die Maus hat augenscheinlich schon Kostproben entnommen.

„Gott im Himmel, das sind Karls Briefe!“ lässt Tantchen mit einer etwas brüchigen Stimme verlauten.

Karl. Die Nummer zwei…

Jede Woche schrieb er aus Linz seinem geliebten „Wiener Mäderl Lintschi“ einen zärtlichen Liebesbrief. Zugleich verschickte er aber auch fast identische Briefe an sein geliebtes „Salzburger Mäderl“.

Als er irrtümlich den Brief an Lintschi in das Kuvert mit der Salzburger Adresse steckte und den Brief an die Salzburgerin nach Wien sandte, kamen die beiden Mäderln dem bösen Karl auf die Schliche.

Das Mäuslein tut mir leid. Dennoch schlage ich vor eine Mausefalle zu holen und bücke mich, um den Koffer zu entsorgen. Aber Tantchen hält mich zurück: „Lass ihn da! Das herzige Mausi wird sicherlich zurückkommen, dann kann es die Briefe zernagen. Alle!“

Jede Woche eine neue Koffergeschichte!

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Eine Begleitaktion zur Sonderausstellung „Packen, tragen, rollen – Reisegepäck im Wandel der Zeit“ (2021)