von Claudia Rieflin
Mein Koffer ist klein. Er misst nur 31/21/12 cm. Er stammt aus Australien und diente in den 60er Jahren als Schultornister meiner großen Schwester. Meine Eltern wanderten 1959 dorthin aus. Haben schlichtweg das deutsche Wirtschaftswunder verpasst, um Down Under ihr Glück zu finden. Sie waren Migranten, Ausländer, die, die den Krieg angefangen haben. Das erste halbe Jahr lebten sie aus Koffern. Frauen und Kinder von den Männern streng getrennt – in Wellblechbaracken des Auswandererlagers. Sie lernten die Sprache, die Verfassung, die Geschichte und den Humor des neuen Landes. Sie integrierten sich, sie arbeiteten fleißig, schlossen Freundschaften und hatten im Winter Heimweh nach Schnee und „Stille Nacht“.
Ich kam 1964 zur Welt. Eine kleine Australierin, geboren im Queen Elisabeth Hospital, als jüngste von drei Schwestern. Meine Pateneltern waren unsere italienischen Nachbarn. Bis heute hüte ich das goldene Medaillon der heiligen Madonna, das ich zu meiner Taufe von ihnen erhielt. Sie liebten es, meinen Vater und die deutsche Sprache zu parodieren: „Schnell, schnell! Aber zackig!“
Mein Vater versicherte mir bis zu seinem Tod glaubhaft, dass er nicht enttäuscht war, dass ich kein Bub geworden bin. Bei meiner Mutter bin ich mir da nicht so sicher.
Meine Schwestern gingen in den Kindergarten und zur Schule. Jeden Morgen wurden die kleinen Papptornister gepackt und sie stiegen in den gelben Schulbus. Zwei deutsche Mädels, die nicht wussten, was deutsch, australisch, italienisch, schottisch, jüdisch, christlich, schwarz oder weiß ist. Jeder kam irgendwo her, ging irgendwo hin und fühlte sich trotzdem verbunden.

Auf der Überfahrt zurück nach Genua auf der „Galileo Galilei“ 1965. Mein Vater hält mich im Arm, meine zwei Schwestern stehen davor und schauen aufgeregt aufs Meer, meine Mutter ist ganz rechts noch zu erkennen.
Ich habe keine Kindheitserinnerungen an mein Geburtsland. Die Erinnerungen existieren nur in Form von Jahr zu Jahr mehr verblassenden Schwarzweiß-Fotos. Aufnahmen, die sorgfältig arrangiert und überlegt sein wollten, da der Film und die Entwicklung teuer waren. Ein Foto bedeutete ein Ereignis – und zwar ein unwiederbringliches. Taufe, Kommunion, Geburtstag, Feiertage und Glücksmomente. Auf einigen erkenne ich den kleinen taubengrauen Koffer mit den weinroten Beschlägen und dem knallroten Kunststoffgriff: In der braungebrannten Hand meiner Schwester, auf dem Boden stehend neben meinem Kinderwagen, vor dem obligatorischen Gummibaum im Wohnzimmer, auf der 6-wöchigen Schiffspassage zurück nach Europa – umklammert von meiner unglücklichen Schwester, die nicht zurück wollte ins kalte Deutschland.
Ich habe mir den kleinen Tornister gesichert. Meiner großen Schwester weggeschnappt. Ich bewahre darin meine Momente auf. Fotos von Haustieren. Vom Tanzstundenabschlussball. Der erste Freund. Schulabschluss. Der erste Interrail-Urlaub nach Griechenland. Saint Tropez im verrosteten Alfa Bertone. Die ersten eigenen Vier Wände. Meine Reise nach Australien in den 90ern. Kängurus, Koalas, Wombats, der Hafen von Sydney, das Great Barrier Reef, die Weinberge von Barossa Valley, meine italienischen Pateneltern „Schnell, schnell! Aber zackig!“
Vor allem die Urlaube in Italien. Toskana, Cilento, Rom, Florenz, Mailand, Venedig, Sizilien Sardinien und immer wieder Meran, Meran, Meran. Mein Sehnsuchtsort. Der Ort, der in schweren Zeiten das Herz leichter werden lässt. Diese verlässlichen Bilder, die vor dem geistigen Auge entstehen, die Freunde, die man gefunden hat und im Herzen bewahrt. In Zeiten von unzähligen, flüchtigen Smartphoneaufnahmen, hüte ich meinen Koffer der Erinnerung. Ich mache Abzüge von unwiederbringlichen Augenblicken und weiß, dass mich dieser Koffer bis ans Ende meiner Tage begleiten wird.
Ach, Meran, bitte hüte du deine Schönheit, wie ich meinen Koffer der Erinnerung.
Jede Woche eine neue Koffergeschichte!
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Eine Begleitaktion zur Sonderausstellung „Packen, tragen, rollen – Reisegepäck im Wandel der Zeit“ (2021-2022)