von Adi Thuile
Meine kleine Koffergeschichte liegt schon viele Jahre zurück und doch kommt es mir vor, als wäre sie erst vor kurzer Zeit gewesen.
Ich schreibe das Jahr 1966. Meine Eltern haben beschlossen, mich auf ein Internat zu schicken. Sie waren der Meinung, es sei das Beste für mich und ich hätte es zu respektieren. Mich zu rebellieren war nicht angebracht, es hätte an der Entscheidung nichts geändert.
Für die Einschulung in die Mittelschule wurde demnach alles rechtzeitig vorbereitet. Meine Mutter nähte auf alle meine Kleidungsstücke die Nr. 36 auf. Die Nummer war in der Farbe rot auf weißem, kleinen Stoffuntergrund, also nicht zu übersehen. Irgendwie fand ich das gar nicht toll, denn ich kannte ja meine Kleider auch ohne Nummer.
….und dann lag er da, auf meinem Bett, hellblau mit dunkelblauen Streifen, hinten und vorne im Karomuster in Stoff gedruckt. Es war mein Koffer, daran gab es kein Zweifel, denn mein Name war in der braunen Lederlasche ganz deutlich ersichtlich. Ich öffnete ihn und fand alle meine persönlichen und nun nummerierten Sachen darin. Meine Freude konnte man mir nicht ansehen, denn ich empfand keine Freude, aber sehr wohl so eine Art von Wut.
Am darauffolgenden Morgen fuhren meine Eltern und ich und mein kleiner, blauer Koffer Richtung Brixen. Während der ganzen Fahrt hielt ich mich am Koffer fest, der den zweiten Platz hinten besetzte. Ich wagte es nicht irgendeine Bemerkung zu machen.
Bald darauf stand ich vor der großen Eingangstüre des Kassianeums und ich wurde freundlich empfangen. Aber sobald sich die Türe hinter mir schloß, fühlte ich mich gefangen. Ich, der immer so frei war und den ganzen Tag in der Natur verbrachte, musste von nun an folgsam sein und alle Regeln akzeptieren.
Es begann eine traurige Zeit mit vielen Tränen und starkem Heimweh. Nur einmal im Monat durfte mein kleiner, blauer Koffer und ich nach Hause fahren und das war eindeutig zu wenig für mich.
Und so packte ich jede Woche meinen kleinen Koffer und hoffte innigst, dass wir beide abgeholt werden. Aber dem war nicht so.
Mein kleiner Koffer und ich beschlossen demnach auf eine andere Art und Weise die Heimreise zu erzwingen. Wir waren uns einig, dass wir es gemeinsam schaffen würden … nach mehreren gescheiterten Versuchen und nach dem zweiten Aufenthaltsjahr im Internat war es endlich soweit … die große Eingangstüre öffnete sich und ein strahlender, aufgekratzter Lausbub verließ mit seinem kleinen Koffer für immer das Internat und hatte nie mehr eine Kleidung mit einer aufgenähten Nummer.
Jede Woche eine neue Koffergeschichte!
Hier geht’s zum Podcast.
Eine Begleitaktion zur Sonderausstellung „Packen, tragen, rollen – Reisegepäck im Wandel der Zeit“ (2021-2022)