von Rudi Gamper
Wenige Jahre vor ihrem Tod fragte ich meine 90-jährige Mutter, wo denn der Koffer sei, der immer auf dem alten Kasten lag und den sie bei der Option nach Österreich und zehn Jahre später wieder beim Rückwandern nach Südtirol bei sich hatte? Sie habe ihn verworfen, meinte sie mit ernstem Gesicht, denn sie wolle nicht mehr an die traurigsten Jahre ihres Lebens erinnert werden. In den braunen Koffer aus gepresster Pappe mit den dreieckigen Schutzblechen an den Ecken hat sie 1940 die wenigen Habseligkeiten gepackt, die der Vater und sie, die Hochschwangere, in den ersten Tagen in der Fremde brauchen würden. Sicher war es beim Kofferpacken nicht ohne Tränen abgegangen, war sie doch gegen das Gehen und in keiner Weise vom Optimismus des Vaters überzeugt, in Osttirol ein besseres Leben führen zu k
önnen und eine sicherere Arbeit als Steinmetz zu finden. Von den 31 Jahren seines Lebens hatte der schwerhörige Vater mehr als die Hälfte mit Steine Klopfen verbracht und die Mutter die Hälfte ihrer 28 Jahre bei den Bauern als Magd im Südtiroler Unterland. Denn seit ihr Vater wegen einer jüngeren Frau die Familie verlassen hatte, war ihre Mutter mit fünf kleinen Kindern zu Fuß vom Ritten zurück in ihre Heimat nach Belluno gezogen, und alle Kinder mussten nach der Volksschule “in den Dienst” zu den Bauern im Südtiroler Unterland. Zu Silvester 1938 hatte sie dann meinen Vater geheiratet und am Traualtar ihm “die Treue in guten und bösen Tagen” versprochen, ohne zu ahnen, dass die “bösen Tage” sehr bald Wirklichkeit werden würden. Denn der Vater entschied sich im Oktober 1939 wegen der schlechten Arbeitslage in Südtirol für das Optieren, die Mutter aber wäre gern geblieben, hatte aber, wie alle Frauen damals, kein Wahlrecht. Und als der Vater im Jänner 1940 den Koffer im Zug nach Österreich verstaut hatte und die Mutter vom Zugfenster aus die winkenden Menschen am Bozner Bahnhof sah, meinte sie: “Peter, die haben es schön. Die dürfen bleiben.” Nur mit der einzigen Habe, dem braunen Koffer, erreichten sie das ihnen zugewiesene alte steinerne Haus in Matrei/Seblas in Osttirol. Nach fünf Monaten kam mein Bruder Adi zur Welt. Doch weil das raue Klima dem Kind arg zusetzte, riet der Arzt den Eltern, nach Schärding zu ziehen, denn, wie er sagte, Schärding sei “die Mutter vom Butter”. Diesmal war der braune Koffer fast ausschließlich mit Windeln gefüllt, denn die Reise nach St. Roman bei Schärding dauerte immerhin zwei ganze Tage.
Mein Vater erhielt in St. Roman eine schöne Arbeit als Steinmetz, doch die Mutter litt nach wie vor an Heimweh und hatte nur einen Wunsch: Zurück nach Südtirol. Schließlich kam 1942 ich zur Welt. Und als 1946 mein Bruder die Volksschule besuchen soll
te, richtete der Vater im Juli ein Gesuch an den Landeshauptmann von Oberösterreich mit der Bitte, einen Tag lang nach Südtirol reisen zu dürfen, um bei der Verwandtschaft gebrauchte Bubenkleider abzuholen. Die Antwort fiel negativ aus, denn – so der heute noch erhaltene Brief im Landesarchiv Oberösterreichs – Auslandsreisen würden nur bewilligt, wenn sie “im öffentlichen oder politischen Interesse Österreichs gelegen sind”. Und so fuhr der Vater mit dem Zug und dem leeren braunen Koffer nur bis zum Brenner, wo ihm die Verwandten aus Leifers Pakete mit gebrauchten Bubenkleidern über den Schlagbaum reichten und er diese eiligst im Koffer verstaute. Zwei Jahre später erließ Italien das “Reoptantendekret”, und da gab es für die Mutter kein Halten mehr. Der Vater musste gegen seinen Willen um die Rückkehr nach Südtirol ansuchen, und im Oktober 1950 saßen wir mit dem braunen Koffer in einem Lastkraftwagen und fuhren zum Dorf St. Roman hinaus. Für uns Buben eine riesige “Hetz”, einmal mit einem qualmenden LKW fahren zu dürfen. Aber ich erinnere mich noch genau, dass die Eltern weinten; der Vater, weil er lieber in Österreich geblieben wäre (und wohl auch besorgt war, wie man ihn als Rücksiedler in Südtirol aufnehmen würde), bei der Mutter aber waren es Tränen der Freude. Nach der Ankunft am Bozner Bahnhof und der Fahrt mit dem SASA-Wagen mit den hölzernen Bänken, erhielten wir eine einfache Wohnung in den Kasernen von Leifers zugewiesen. Und weil die Möbel erst eine Woche später nachkamen, lebten wir sieben Tage lang von den Habseligkeiten, die die Mutter im braunen Koffer verstaut hatte.
Übrigens hat die Mutter den Koffer nie mehr verwendet, genauso, wie sie Zeit ihres Lebens nie mehr einen Zug bestiegen hat; zu schmerzhaft war die Erinnerung an die Ausreise 1940. Inzwischen sind alle Zeugen dieser unseligen Zeit verstorben, und ebenso gibt es den “treuesten” Zeugen dieser Zeit nicht mehr – den braunen Koffer aus gepresster Pappe mit den dreieckigen Schutzblechen an den Ecken. Es gibt ihn nur noch in meinen Erinnerungen.
Jede Woche eine neue Koffergeschichte!
Hier geht’s zum Podcast.
Eine Begleitaktion zur Sonderausstellung „Packen, tragen, rollen – Reisegepäck im Wandel der Zeit“ (2021-2022)